Hannah J. Kohler
Hannah J. Kohler
Stipendiatin Bildende Kunst 2022
Hannah J. Kohler (*1997 in Geislingen an der Steige) studierte 2015 bis 2021 an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart freie Kunst, zuerst bei Prof. Lehnert und ab 2016 Fotografie bei Prof. Roggan. Sie entwickelt Fotoserien, Zeichnungen und Mixed Media Installationen die u.a. im UG des Folkwangmuseums in Essen, dem Kunstverein Konstanz, in der Halle 14 in Leipzig und der Galerie Kernweine in Stuttgart gezeigt wurden.
Interview
Du setzt dich in deiner Kunst mit dem Begriff der Selbst - und Fremdwahrnehmung auseinander und hinterfragst weibliche Stereotypen. Warum?
Schon immer hat mich die Vielfalt der Gesellschaft interessiert. Wie jeder in allem was er tut anders agiert und wie jeder auch alles um sich herum anders wahrnimmt.
Das Stichwort: Individualität.
„Das was ich wahrnehme ist vielleicht nicht das was du wahrnimmst.“
Gleich zu Beginn meines Studiums habe ich angefangen, mich intensiv mit wissenschaftlichen Texten zur Wahrnehmung auseinander zu setzen. Ich wollte herausfinden, wie das Wahrnehmen funktioniert. Aber diesen Begriff zu definieren ist hinsichtlich dem, was er alles einschließt gar nicht einfach.
Seit meinem dritten Semester versuche ich nun Arbeiten zu realisieren, die in diesen Wahrnehmungsprozess eingreifen. Mein Interesse an den weiblichen Stereotypen hat den gleichen Ausgangspunkt. Dabei interessiert mich vor allem die Frage wie Weiblichkeit im Alltag produziert wird. Es ist mir ein Anliegen den Blick für diese Dinge zu schärfen, die manchmal als zu selbstverständlich angesehen werden.
Wie viel von dir selbst steckt in den Rollen deines aktuellen Projektes?
Das ist schwierig zu beantworten. An manchen Tagen würde ich sagen mehr als an anderen.
Mir ist es wichtig die Rollen authentisch, wenn auch manchmal etwas übertrieben, darzustellen. Dass ich sie selbst verkörpere hat zwei Gründe: zum einen bin ich eine zu große Perfektionistin , als dass ich das aus der Hand geben könnte (Ich habe es schon erfolglos versucht). Zum anderen sehe ich den performativen Akt des zehn-Sekunden-Inszenierens und anschließendem Kontrollieren als Teil der Arbeit. Natürlich gebe ich dabei manchmal auch etwas Persönlichkeit von mir mit hinein. Aber generell sehe ich die Rollen, die ich einnehme nicht als Teil meiner Selbst, sondern als Teil meines Wahrnehmens.
Du hast dich theoretisch mit dem Halo-Effekt auseinandergesetzt. Was verbirgt sich dahinter und wie zeigt sich dies in deinen Arbeiten?
Hinter der theoretischen Auseinandersetzung steckt bei mir sehr viel Recherche. Das Lesen und Erarbeiten vieler wissenschaftlicher Texte, ebenso wie das Sprechen über das Erfahrene mit verschiedenen Menschen aus meinem Umfeld. Bei dem Halo-Effekt aus der sozialen Wahrnehmung handelt es sich um einen Beurteilungsfehler bzw. eine Wahrnehmungsverzerrung. Ein einziges, im zwischenmenschlichen Kontakt zuerst wahrgenommenes, positives Persönlichkeitsmerkmal kann dabei die gesamte Person in einem guten Licht erscheinen lassen und alle anderen Eigenschaften überstrahlen. In meiner theoretischen Vorarbeit habe ich mich gefragt, ob der Halo-Effekt auch über akustisches Wahrnehmen funktioniert und ob wir uns beim Hören von Podcasts, Interviews und Ähnlichem, ein Urteil aufgrund anderer sensorischer Eindrücke bilden.
In meinen Arbeiten konzipiere ich Charaktere mithilfe von Fotografie und Text, die zum Teil auf mitgehörten Anekdoten basieren, die prominente Gäste im Radio den Hörern und Radiomoderatoren erzählten. Die Fotografien entstehen dabei aus meiner subjektiven Wahrnehmung und bildlichen Vorstellung des Mitgehörten.
Was möchtest du mit deiner Kunst bewirken?
Ich möchte, dass durch meine Kunst das eigene Denken hinterfragt und die eigene Wahrnehmung reflektiert wird. Aber, und das ist mir sehr wichtig, sollte dabei der Humor nicht zu kurz kommen. Meine Kunst soll die Menschen auch zum Schmunzeln bringen. Sie soll Geschichten in den Köpfen in Gang setzten und auch ein neues Feingefühl für das gesellschaftliche Miteinander etablieren.
Was planst du während deines Stipendiums?
Geplant sind noch viele Dinge, wobei ich schon einige Projekte mithilfe des Stipendiums verwirklichen konnte.
Zum einen war das die Erweiterung meiner Arbeit Der Halo-Effekt und die Wîbheit – Anekdötchen. Und zum anderen die Weiterführung der Arbeit That's pure prejudice, in der ich mich mit Menschen beschäftige, die täglich aufgrund ihres Berufes und Umfeldes Vorurteile wahrnehmen oder selbst mit Vorurteilen gegen sich zu kämpfen haben.
Beide Arbeiten sind auch Teil meiner einjährigen Einzelausstellung "Frischzelle_29: Hannah J. Kohler" im Kunstmuseum Stuttgart, die am 28.10.2022 eröffnet wurde. Für die Ausstellungen stelle ich mich neuen Herausforderungen, wie dem Fotografieren mit High-End-Kamerasystemen im Mittelformat und einer neuen Arbeitsweise, in der ich Fotografie mit Video in einer Mixed-Media-Installation kombiniere. An dieser Art der Kombination möchte ich während meines Stipendiums genauso weiterarbeiten wie an der Frage, wie ich für mich stimmig Zeichnung, Text und Fotografie miteinander verbinden kann.