Tatjana Stürmer
Tatjana Stürmer
Stipendiatin Bildende Kunst 2023
Tatjana Stürmer (*1993, lebt in Zwingenberg und Amsterdam) bewegt sich in ihrer Arbeit zwischen gestalterischer Praxis und Multimedia-Installationen. Ihre Arbeiten kreisen um die Performativität von (visueller) Sprache und untersuchen, wie diese unsere sozialen und politischen Erfahrungen prägt. Ihre Spekulationen über mögliche Zukunftsszenarien werden durch Rückblicke, manchmal bis ins frühe Mittelalter, angeregt.
Interview
1. Während deines Stipendiums hast du an der künstlerischen Arbeit: »The Virgin, the Cleaver and the Martyr« (übersetzt: »Die Jungfrau, das Hackbeil und die Märtyrerin«) gearbeitet. Kannst du uns erzählen, worum es in der Arbeit geht?
»The Virgin, the Cleaver and the Martyr« ist den Arbeiten und der Biografie von Hrotsvitha von Gandersheim gewidmet. Die künstlerische Arbeit besteht aus einer 6-Kanal Soundinstallation mit einem 14-minütigen Klangstück und diversen materialbasierten Objekten wie Textilien und UV-bedruckten UV-Folien. Das Soundstück erzählt von einer grotesken Beobachtung dreier Frauen bei Nacht in einer Küche.
Die erste Iteration dieser Arbeit wurde im Frühjahr dieses Jahres als ortsspezifische Installation in der GfZK Leipzig in der Ausstellung »Looking for a New Foundation« (März-August 2023) entwickelt und mit der GfZK gemeinsam produziert. Kollaborateure*innen dieser Arbeit sind Lukas Rehm (Komposition), Stine Marie Fischer, Clare Tunney (Gesang) und Anette Wanner (Sprecherin).
2. Wie bist du auf die Idee gekommen, die historische Figur Hrotsvitha von Gandersheim zu thematisieren?
Meine Arbeit beschäftigt sich viel mit Zeichen, Buchstaben und Grids (Rastern). Ich interessiere mich dafür, ihre performativen Aspekte und Auswirkungen auf unsere soziale Realität zu beobachten. Es entstehen Arbeiten in Form von grafischen Formaten, wie Publikationen aber auch multimedialen Installationen. Der Blick zurück in die Vergangenheit, oft das frühe Mittelalter, dient dazu eine nachhaltige, feministische und verlangsamte Zukunftsspekulation zu erzählen.
Über eine mittelalterliche Autorin, die mich in diesem Zusammenhang interessiert hat (Hrotsvitha von Gandersheim), bin ich im wahrsten Sinne des Wortes ‚gestolpert’. In einem Blog über mittelalterliche Texte und Handschriften gab es eine kurze, höchstens zweizeilige Zusammenfassung eines Dramentextes von ihr. Ich erinnere mich noch, dass ich über die Seltsamkeit dieser kurzen Synopsis sehr erstaunt war und nicht genau wusste, was ich mit den wenigen Worten anfangen sollte. Ob mir eher zum Lachen oder zum Weinen zumute war. Es war ein sehr bizarres Gefühl, als ob mein Körper gleichzeitig in verschiedene Richtungen gezogen wird. An dieses Gefühl wollte ich mit »The Virgin, the Cleaver and the Martyr« anknüpfen, und so begann ich mich mit ihren Stücken und ihrer Biografie vertraut zu machen.
Hrotsvitha wurde zwischen 912 und 935, zur Zeit der Liudolfinger (Ottonen) geboren und lebte als Kanonisse im Kloster Gandersheim im heutigen Niedersachsen in Deutschland. Durch ihre Fähigkeit, humorvoll zu schreiben und das Groteske mit sozialen Kommentaren anschaulich zu verbinden, verwebt sie die Untersuchung von Geschlechternormen im 10. Jahrhundert mit ihren Darstellungen weiblicher Stärke. Die daraus entstehenden Konflikte möchte ich in die Gegenwart übertragen, indem ich auf der Grundlage eines ihrer Stücke mit dem Titel »Dulcitius - Das Martyrium der Heiligen Jungfrauen Agape, Chionia und Hirena« arbeite. Darin wird die Geschichte dreier Schwestern erzählt, die sich gegen ihren Kaiser erheben, sie sollen unfreiwillig verheiratet werden und schlussendlich als Märtyrerinnen sterben. Die Soundarbeit erzählt die Schlüsselszene des Stücks nach. Sie spielt in einer Küche während einer Vollmondnacht und nimmt an ihrem absurdesten Moment teil: zwischen Schrecken, Gewalt und Groteskem schwankend, am Rande der Verschmelzung von Symbolhaftem und Wörtlichem. Auf der Grundlage des originalen Dramentextes aus dem 10. Jahrhundert schrieb ich ein neues Skript und verwob es mit Textfragmenten und Zitaten unter anderem von Kathy Acker (»The Diaries of Laure«, 1983), Soraya Chemaly (»Rage becomes her«, 2018), Elena Ferrante (»My brilliant Friend«, 2011) und eigenen Texten.
Hrotsvitha (ihr Name bedeutet im Lateinischen clamor validus, was so viel wie starke oder laute Stimme bedeutet) ist nicht eine, sondern viele Frauen, deren zeitübergreifende kollektive Körper ein lautes ‘Wir‘ durch die Geschichte tragen, das mit seiner mystischen und mächtigen emanzipatorischen Kraft den Raum transzendiert. Es ist dieses spezifische kollektive Wir, auf das ich zurückgreifen und das ich ausgraben wollte, um erstens eine fast vergessene, erstaunliche mittelalterliche Autorin, Hrotsvitha, sichtbar zu machen und zweitens ihren literarischen Körper weiter in die Gegenwart zu führen.
3. Deine Arbeit wird in Form von multimedialen Skulpturen umgesetzt. Wie kombinierst du dabei traditionelle handwerkliche mit modernen Techniken?
Meine künstlerische Praxis bewegt sich im Zwischenraum von künstlerischer Installation mit Film und Ton und visueller Gestaltung wie Print. Ich arbeite gerne mit vielen einzelnen Stücken oder Teilen, kleinen und großen, leisen und lauten Fragmenten, die nur zusammen eine Geschichte erzählen. Manchmal sind sie aus Keramik, textilen Fäden, Papier, Holz, Klängen, Film, aber immer sind es Bilder. Ich bin daran interessiert, affektive (und wirksame) Zonen zu schaffen, die das Entdecken, das Bewohnen und die Teilnahme in ihnen ermöglichen. Dort können sich Erzählstränge überschneiden, sich verflechten, parallel verlaufen und einander beeinflussen.
Meine Arbeiten sind manchmal wie Fungi – sie wachsen und vermehren sich. Sie erfordern Sorge (Arbeit) und Raum (Infrastruktur). Oft führt das eine zum anderen… Ich interessiere mich immer mehr für Materialien, die den Ruf haben, "Frauentechniken" zu sein (ob das wirklich der Fall ist, sei dahingestellt, denn vor allem die Arbeit mit Textilien war historisch gesehen Arbeit und Anstrengung, wie Textil und Druck.)
Diese (weichen) Oberflächen werden dann mit digitalen oder mechanischen Werkzeugen bearbeitet. Die Werkzeuge, die ich benutze, sind sehr zugänglich in dem Sinne, dass sie spontane Einschreibungen in oder auf Materialien ermöglichen, wie eine Art digitales Skizzieren. Im Moment lerne ich mit der Stickmaschine zu arbeiten. Die Digitalisierung von handwerklichen Werkzeugen ermöglicht eine sich verändernde visuelle Sprache in Zeit und Raum: Komplexe Details, die sonst viel Zeit und Arbeit erfordern und somit das Handwerk aus seiner Zeit/Raum/Ressourcen-Kontinuum befreien – zumindest auf der Bild-Ebene. Für einen Kurs, den ich an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach gegeben habe, habe ich den Begriff "Soft Images" vorgeschlagen, der mir für diese Art von digitalisiertem Handwerk sehr überzeugend und passend erscheint. Zumal die materielle Fertigkeit eher zu einem (Ab-)Bild ihres Handwerks wird, als dass sie noch das historische Handwerk oder die Technik selbst ist. In meiner Arbeit haben diese Soft Images pelzige Oberflächen, ein biegsames Faserrückgrat und erzählen vom Vorleben (und den Erinnerungen) ihres Materials. Sie laden besonders zur taktil-sensorischen Begegnung mit ihren Linien und Fäden ein. Ihre Bildebenen sind verwoben und es lassen sich kaum Vorder- und Hintergrund unterscheiden, denn alles ist Text, Textur, Textil.
4. Hast du schon weitere Projekte während des Stipendiums geplant, die du gerne umsetzen möchtest?
Yes – während ich die Interviewfragen beantworte, bin ich gerade in New York City und besuche verschiedene Bibliotheken, um mittelalterliche Manuskripte anzusehen, die im 17. und 18. Jahrhundert mit dem Schiff nach Amerika gebracht wurden.
Mitte November werde ich »The Virgin, the Cleaver and the Martyr« als ortsspezifische Edition in der Kunststiftung zeigen, sowie eine neue Textilarbeit, die sozusagen daraus herausgewachsen ist. Der Name der Ausstellung wird »Medea at the Window« (»Medea am Fenster«) sein. Bis zum Ende des Jahres werde ich mich weiterhin mit der Arbeits-Serie des Hrotsvit-Triptychons beschäftigen. Zu »The Virgin, the Cleaver and the Martyr« werden noch zwei weitere Originalstücke von Hrotsvitha von Gandersheim als künstlerische Arbeiten entstehen, die nächste auf dem »Callimachus – Die Wiederauferstehung von Drusiana und Callimachus«. In Anlehnung an die Thematik des Stücks, welches Selbstbestimmung, Reinheit und Transzendenz sowie Virtualität infrage stellt, wird sich das Projekt mit aktuellen Phänomenen der Unterhaltungsindustrie wie dem Hollywood-Schauspielerstreik, Performance- und (Post-)MeToo-Debatten auseinandersetzen … Gemeinsam mit Charlotte Rohde arbeite ich derzeit als Gestalterin daran, Charlottes erste Publikation »You Loved an Image« Ende des Jahres 2023 im Distanz-Verlag (Berlin) in den Druck zu bringen. Uns interessieren (aus verschiedenen Perspektiven) die Fragen des weiblichen Schreibens (écriture féminine nach Hélène Cixous, Luce Irigaray und anderen) und die Entwicklung neuer visueller und sprachlicher Techniken des Geschichtenerzählens. So wird es in der Publikation beispielsweise visuelle Signifier geben, zum Beispiel butterflies (Schmetterlinge), die als unzuverlässige Erzähler die Textzeilen unterbrechen, oder tears (Tränen), die in ein Glyphenset integriert sind.