Alexa Dietrich
Alexa Dietrich
Literatur 2024
Alexa Dietrich (*1996) schreibt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Sie forscht kollektiv-literarisch zu sozialer Poetik und alternativen Autor:innenschaftskonzepten, Autofiktion und Kompliz:innenschaft im Kollektiv Kritter. Studium am Literaturinstitut Hildesheim und der Freien Universität Berlin. Für ihre literarische Arbeit wurde sie u.a. 2020 mit dem Preis der Hannoverschen Autor:innenkonferenz und 2021 vom Jungen Literaturhaus Freiburg für ihr Kinderbuchmanuskript »Das Oxymooron« ausgezeichnet. Für die Arbeit an ihrer feministischen literarischen Forschung »und salz und sorge« zu Fürsorgearbeit, Zuwendung und Pflege ist sie 2024 Stipendiatin des Künstlerhaus Lukas in Ahrenshoop und der Kunststiftung Baden-Württemberg. Sie arbeitet als freie Lektorin, textet für Podcasts und gibt Workshops für Menschen aller Altersgruppen.
Interview
1. Woran arbeitest du gerade?
Hauptsächlich an meiner literarischen Forschung mit dem Arbeitstitel »und salz und sorge«. Ich versuche mal einen „Elevatorpitch“: In »und salz und sorge« interessiere ich mich für Fürsorge und Zuwendung. Ich befrage in autofiktionalen Verfahrensweisen das individuelle Sorgetragen, erzähle vom Kümmern und Hinterherwischen einzelner – und bin dabei stets auch soziologisch interessiert an den Intersektionen von Gender, Klasse und Herkunft, die unsere gesellschaftlichen Organisationsstrukturen von Fürsorge prägen. Im Fokus stehen dabei die Pflege und Versorgung von alten Menschen. Grundlage meiner literarischen Arbeit ist eine Feldforschung bei meiner eigenen Großmutter und ihrem Zuwendungsnetz – zu dem auch ich gehöre – zum Zeitpunkt ihrer stark zunehmenden Pflegebedürftigkeit. Sowohl ihre vier Kinder, für die sie den Großteil der Fürsorgearbeit geleistet hat, als auch ihre Schwieger- und Enkelkinder sind in ihre Pflege involviert. Mit zunehmendem Pflegegrad ergänzen zwei bezahlte Pflegerinnen aus Polen das Fürsorgenetz – und die theoretische Fürsorge-Thematik um den Komplex der transnationalen Care Chains. Und auch in dieser Fürsorgestruktur besteht eine frappierende gegenderte Ungleichverteilung.
Außerdem überarbeite ich mein Kinderbuchmanuskript »Das Oxymooron«, arbeite im Kollektiv KRITTER, und schreibe mit wechselnden Kolleg:innen kollaborative Lyrik, aktuell mit Camí Mazía (Buenos Aires).
2. Was hat dich motiviert, dich literarisch mit dem Thema Fürsorge auseinanderzusetzen?
Meine Wut darüber, dass das Streiten um die Anerkennung und Umverteilung von Fürsorgearbeit feministische Kämpfe schon seit weit über einem Jahrhundert mitbestimmt – und immer noch weitergehen muss. Fürsorgearbeit wird zum Großteil bis heute von Frauen geleistet (1), und ist damit Teil fortbestehender soziokultureller und gesellschaftspolitischer Unterdrückungsstrukturen. Die patriarchalen Narrative von vermeintlich natürlicher weiblicher Sanftheit führen auch noch in der Gegenwart zu vielfältigen gesellschaftlichen Missständen, die entgegen der Fiktion ihrer Ursprünge sehr real sind: angefangen bei der Altersarmut weiblicher Rentnerinnen, über die schlechte Bezahlung in Care-Berufen trotz globaler Pandemie, hin zu misogynen Vorwürfen gegenüber Politikerinnen mit Kindern (2), um nur einige Beispiele zu nennen – »Sanftheit als ein natürlicher Mix aus Kümmern, Helfen, Hinterherwischen wird bei Frauen ebenso vorausgesetzt, wie er bei allen anderen nicht vorausgesetzt wird« (3), wie es Ann-Kristin Tlusty in ihrer famosen Streitschrift »Süß« formuliert. Zum Komplex Fürsorgearbeit gehört auch der historische Ausschluss von Frauen aus der kulturellen Produktionssphäre. Damit wird Fürsorgearbeit u.a. auch zu einem Thema feministischer Ästhetik, weil ihre gegenderte Ungleichverteilung Einfluss auf die Produktionsbedingungen von Literatur hat.
3. Und aus dieser Wut speist sich die Suche nach einer literarischen Form?
Genau – als Autorin stellt sich mir dann die Aufgabe, wie sich diese Fragen nach gegenderter Ungleichverteilung von Fürsorgearbeit mit ästhetischen Fragen verbinden lässt. Konkreter formuliert: Wie kann ich von den Ambivalenzen gegenderter Fürsorgearbeit literarisch erzählen? Wie kann ich zum einen von der Zerstörung weiblicher Möglichkeiten durch die Zuteilung von Fürsorgearbeit qua Geschlecht erzählen, von den Unterdrückungsmechanismen, die durch die Figur der »sanften Frau« (4) wirken; und zum anderen Fürsorgearbeit als etwas zeigen, das Möglichkeiten birgt, das andere Zugriffe auf die Welt und das in der Welt sein ermöglicht? Wie lässt sich Fürsorgearbeit erzählerisch aufwerten, die historisch (ergo: in patriarchaler Tradition) in Literatur kaum sichtbar oder abgewertet wurde? Wie kann ich mich dafür – als Frau heute – im historischen feministischen Kampf um die Anerkennung von Fürsorgearbeit anders erzählerisch verorten, indem ich mich mit meiner Großmutter in Beziehung setze? Kurz: Wie könnte eine feministische Poetik der Zuwendung aussehen?
Natürlich kommt auch eine persönliche Komponente hinzu – vor allem eben die Sorge um meine geliebte Großmutter. Meine eigene Fürsorgearbeit für sie fand größtenteils über das Telefon statt, maximal drei Mal im Jahr war ich zu Besuch. Ich sorgte mich, dass ich mich eines Tages fragen würde müssen: Warum warst Du nicht öfter da. Mit Anhalten der Covid-19-Pandemie ist diese persönliche Frage für mich immer größer geworden: Wenn weder mein Studium, noch meine literarische Arbeit und Lohnarbeit an bestimmte Orte gebunden sind, wenn ich mich aus der Distanz um meine Großmutter sorge – warum bin ich dann nicht dort, bei meiner Großmutter, und übernehme einen (Groß?)-Teil der Fürsorgearbeit für sie? Und weiter: Warum verzweifle ich an dieser Frage, an der realen Distanz, warum empfinde ich einen objektiven Mangel, wenn ich mich sehr bewusst für ein Leben anderswo entschieden habe? Warum stelle ich mir diese Fragen? Warum fühle ich mich verantwortlich? Warum muss ich davon erzählen, um nicht an meiner Sorge zu verzweifeln? Wie kann ich von alldem erzählen? Und später: Warum muss aus allem »warum« »wie?« werden?
Und gleichzeitig: Viel zu oft widme ich mich sanft den Sorgen anderer, während eigentlich mein Material, mein Körper, meine eigene Suppe, mein Eigenes Zuwendung bedürfen. Auch ich bin als Frau Teil süßlicher Arrangements, die mein Salz mit Zucker verwechseln: Teil »süßlicher Entfremdung, die Frauen in Rollen drängt, die sie selbst nicht geschaffen haben« (5). Wie steht das im Verhältnis zu meiner drängenden Frage, warum ich nicht bei meiner Großmutter bin?
4. Kannst du uns mehr über deine Arbeit im Kollektiv Kritter erzählen?
Sehr gern! Wir sind ein Kollektiv aus fünf Schriftsteller:innen, die sich für drei Jahre zur Arbeit an einem gemeinsamen Projekt versprochen haben. Wir stammen aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft und unterschiedlichen Generationen; wir sind unterschiedlich etabliert im Literaturbetrieb. Wir sind der Überzeugung, dass den Krisen der Gegenwart nur mit Bündnissen und Vielstimmigkeit adäquat begegnet werden kann. Deswegen entwickeln wir kollektive Praktiken der Autor:innenschaft und damit eine soziale Poetik. Wichtig ist uns, Verfahrensweisen für offene Schreibprozesse zu erschließen und im Anschluss auch anderen zur Verfügung zu stellen. Wir wollen geteilte Autor:innenschaft in ästhetischen Praktiken etablieren, gesellschaftliche Thematiken in einer diversen, vielstimmigen Haltung verhandeln und Konkurrenzverhältnisse des ästhetischen Kapitalismus mit Bündnisformen unterlaufen. Konkret gehen wir folgendermaßen vor: Wir erklären unsere Biografien zu kollektivem literarischem Material und laden uns an biografisch signifikante Orte ein, hören einander zu, befragen uns und erschreiben uns kollektiv einen Roman. Dabei nehmen wir den Trend zur Autofiktionalität auf, unterlaufen aber die in den letzten Jahren stärker gefestigten Bindungen an Autor:in, Text, Lebenswelt.
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(1) vgl. Schnerring/Verlan, S. 15. vgl. fortführend für den deutschsprachigen Kontext Bericht zum Gender Care Gap Projekt (bmfsfj.de).
(2) vgl. Tlusty, Ann-Kristin: Süß. Eine Feministische Kritik. S. 24.
(3) Tlusty, Ann-Kristin: Süß. Eine Feministische Kritik. S. 24.
(4) vgl. zur Figur der »sanften Frau« Tlusty, S. 16.
(5) Tlusty, Ann-Kristin: Süß. Eine Feministische Kritik. S. 12.