Havin Al-Sindy

Foto:© Dirk Rose. Mit freundlicher Genehmigung von Ihsan Alisan / Mouches Volantes.

Havin Al-Sindy
Stipendiatin Bildende Kunst 2021

Havin Al-Sindy arbeitet in Stuttgart und Düsseldorf. Geboren und aufgewachsen ist sie im Kurdischen Autonomiegebiet im Irak. Sie studierte zunächst Kunst, Biologie und Chemie an der Universität Duisburg - Essen und schloss 2019 das Meisterschüler:innen Studium an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart ab. Anschließend war sie als Gasthörerin in die Klasse von Professor Gregor Schneider in der Kunstakademie Düsseldorf. Ihre Arbeiten sind im Feld der Konzeptkunst und der Malerei anzusiedeln. In ihrem Schaffen beschäftigt sie sich aus unterschiedlichen künstlerischen und wissenschaftlichen Blickwinkeln mit den Fragen der Erinnerung und ihrer Rekonstruktion, mit Verortung und Entortung. Sie konfrontiert die Betrachtenden mit eigenen Erwartungshaltungen und tatsächlicher Erfahrung. Die Begegnung mit ihrem Werk soll die Grenzen der Vergangenheit und Gegenwart aufheben. Dabei bedient sie sich performativer und installativer Ausdrucksweisen sowie traditioneller Medien. Hierbei verwendet sie Darstellungsmodi der Naturwissenschaft und zieht herkömmliche Materialien wie Lehm und Ton als auch neue Medien wie Video und Virtual Reality heran. 

www.al-sindy.de

Interview

Was fasziniert dich an der Naturwissenschaft, insbesondere in Bezug auf die
Kunst?
Die Beobachtung, die Forschung und das Experimentieren sind Bestandteile meiner künstlerischen Arbeit. Ich möchte sowohl das Material, mit dem ich arbeite, als auch das Thema, mit dem sich meine künstlerische Arbeit beschäftigt, untersuchen, kennenlernen, archivieren und damit prozesshaft exterminieren. Die Faszination für die Wissenschaft ist für mich kaum trennbar von der Kunst. Wissenschaften knüpfen an Vorwissen an und erweitern, belegen oder widerlegen diese Erkenntnisse und erweitern diese methodisch. In der Kunst verhält es sich, nach meinem Verständnis, ebenso. Man knüpft an Bildtraditionen an, bedient sich Darstellungsmodi und nutzt auch neue technische Möglichkeiten, um neue Arbeiten zu generieren. Es ist wichtig für mich verschiedene Bereiche miteinander zu verbinden, ohne diese in Abhängigkeit zueinander zu setzen. Mit Mitteln der Naturwissenschaft werden für mich viele Phänomene in der Kunst in Bezug auf Menschen und Natur, politische Entwicklung und die strukturellen Gegebenheiten in der Gesellschaft sichtbar und deutlich. Die mikroskopischen Einheiten werden zu makroskopischen Einheiten, die ich in meiner künstlerischen Arbeit zeige.
Die Verbindung von Naturwissenschaft und Kunst wird in meinen Arbeiten in einen Prozess eingebettet, der die Verbindung dieser beiden Disziplinen sucht und in einer Präsentation münden lässt. Sehr oft lerne ich durch ein Material oder ein Thema, welches ich in einem neuen Zusammenhang untersuche, neue Bereiche der Naturwissenschaft kennen, die ich für meine künstlerische Arbeit sehr wichtig finde.

Inwieweit spielt deine Herkunft und vor allem deine Biografie eine Rolle in
deinen Arbeiten?
Ich denke, dass sehr vielen Künstler:innen aus allen Sparten die eigene Biographie dabei hilft einen Weg der künstlerischen Arbeit zu finden. Meine Herkunft und Biografie haben in meinem künstlerischen Schaffen eine verortende Rolle. Die Themen oder die Gegenstände meiner künstlerischen Arbeit haben eine eigene Herkunft. Meine Herkunft und Biografie verorten und positionieren sich in Bezug auf Themen und Haltungen. Als Angehörige einer Minderheit in einer Minderheit stehe ich als Kurdin in einer Position, die durch ihre Seltenheit einen Wert zu haben scheint. Meine Arbeiten, die durchaus dieser Biographie entspringen, sich jedoch nicht durch diese definieren, drohen Gefahr auf eben diese reduziert zu werden. Auch wenn ich mich meiner Vergangenheit, die Geschichte meines Volkes, meiner Familienkonstellation bediene, ist diese übertragbar. In einer globalisierten Welt ist die Vielfältigkeit außerhalb der stereotypischen Platzierung exotischer oder exotisierter Arbeiten dringlicher als je zuvor. Ich möchte diese Aspekte untersuchen und sichtbar machen. Kunst kann und darf politisch sein, daher spielt meine Herkunft eine Rolle, wenn auch eine dem Inhalt untergeordnete Rolle.

Aktuell setzt du dich besonders mit der Gravitation auseinander. Worum geht
es in diesem Projekt?
Im Projekt „Gravitation“ verfolge ich die Fragen nach einer möglichen Bildsprache, die sich
unabhängig von der Gravitation entwickeln kann. Ich bin der Auffassung, dass wir in einer Zeit
leben, in der Regeln und Gesetze in der Kunst neu ausgelotet zu werden scheinen, doch großen
internen und externen Widerständen ausgesetzt sind. Diese Gesetze sind jedoch keine
Naturgesetze und deshalb in Frage zu stellen. Aus diesem einfachen Gedanken ist die Idee
entsprungen das Material zu befreien. Jede Befreiung kann nur von etwas sein oder einem
metaphorischen Platzhalter entgegengerichtet sein. Ich möchte das Material und die Bildsprache von der Gravitation befreien. Nicht nur im übertragenden Sinn, sondern tatsächlich.

Wer oder was inspiriert dich?
Inspirationen sind Personen oder Gegenstände, die einem „Geist“ verleihen, motivieren, lenken
oder vorbildhaft fungieren. Diese sind in Ebenen mannigfaltig vergraben. Sie sind biologisch,
psychologisch und spirituell. In allen Ebenen finde ich meine Mutter, meine Freunde und vor
allem die Natur.

Welche Pläne hast du während deines Stipendiums?
Ich möchte während des Zeitraums Künstler:innen und Wissenschaftler:innen treffen, die sich
mit diesem Thema auseinandergesetzt haben. Zudem sind Besuche in verschiedenen
Forschungs-Stationen geplant. Es wird eine intensive Phase des Forschens, Beobachtens und
Exterminierens sein.

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