Oliwia Marta Hälterlein
Oliwia Marta Hälterlein
Literatur 2025
Oliwia Marta Hälterlein (*1986 in Bydgoszcz, Polen) ist Autorin, Moderatorin, Dramaturgin und Konzeptionistin von künstlerischen & soziokulturellen Projekten. In Salzburg, Krakau und Berlin studierte sie Slawistik, Vergleichende Literatur-, Kultur-, Theater-und Filmwissenschaft. 2020 schrieb sie „Das breitbeinige Heft: Das Jungfernhäutchen gibt es nicht“ (Maro Verlag), seitdem spricht sie sich auf Bühnen für anatomische Realitäten rund um die Vulvasphäre aus. Sie ist Mitbegründerin der Freiburger feministischen Aktionswoche „Aufgeklärt?!“ sowie der Lesereihe CLITERATUR, die sie moderiert. Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und finalisierte dort ihr Debüt zu Tochterschaft, Polen, Migration, Bäuerinnenalltag & Mehrsprachigkeit. Daraus entstand CÓRKOWOŚĆ, ein partizipatives & performatives Schreib- und Leseprojekt, welches sich mit Herkunftsscham, Muttermalen, Großmutterzungen & Transitgehirnen auseinandersetzt und im öffentlichen Raum zum anonymen Schreiben einlädt.
Interview
Dein Debütroman erscheint im Frühjahr 2026 bei C.H. Beck und erzählt anhand drei Figuren polnischer Herkunft vom ländlichen Leben, von Frauen in der Solidarność-Bewegung, von Migration, Zweisprachigkeit und transgenerationalem Trauma.
Inwiefern lassen sich diese Inhalte mit deiner Biografie in Verbindung setzen?
Lesen hat schon immer einen besonderen Stellenwert in meinem Leben gehabt, aber auch da habe ich lange nicht begriffen, dass die Protagonistinnen, falls es überhaupt Frauen waren, nichts mit meiner Lebensrealität gemein haben. Ich war immer total versessen darauf, herauszufinden, wer die Autor*innen sind, habe unzählige Biografien gelesen, mich versucht darin wiederzufinden, Lebenswege nachzuahmen. Erst im Laufe der Jahre begriffen, dass der Zugang zu Kunst und Kultur sehr viel mit dem Status / Klasse / Bildungsmilieu der Autor:innen zu tun hat, in die sie reingeboren wurden. Meiner Meinung nach gibt es in der Literatur (weder als Protagonistinnen noch in Autor:innenprofilen) nicht genug Repräsentation von Menschen, die nicht aus Akademiker:innen bzw. Künstler:innenfamilien kommen oder keine klassische Aufsteiger:innengeschichte erlebt haben.
Da ich aus einer Familie komme, in der die Frauen keinen Zugang zu Bildung und Kunst hatten, habe ich erst im Studium begonnen, mich mit meiner Herkunft auseinanderzusetzen. Damit, was Privilegien und was (post-)koloniale Theorien und patriarchale Strukturen sind und was all das mit Diskriminierungen und den -ismen zu tun hat. Erst spät habe ich verstanden, dass die soziale Herkunft entscheidend ist für Bildungserfolg und meine Gefühle und Erfahrungen habe ich in Theorien rund um Klassismus und Antislawischer bzw. Antiosteuropäischer-Rassismus (1) wiedergefunden.
Es gibt Vieles, was in der polnischen Geschichte keine Sichtbarkeit erfahren hat, oder erst seit wenigen Jahren, wie beispielsweise die Errungenschaften der Frauen in der Solidarność (2) oder die tatsächlichen Lebensrealitäten von Frauen auf dem Land.
Deshalb ja, es ist eine bewusste Entscheidung in meinen Texten auf diese Löcher in der Literatur und Geschichte hinzuweisen, von denen die Frauen in meiner Familie auch betroffen sind. So kreiere ich beispielsweise eine Mutter, die meiner ähnelt, da sie in der Volksrepublik Polen sozialisiert ist und ohne Sprachekenntnisse mit einem Kind nach Deutschland migriert ist. Gleichzeitig ist meine polnische Herkunft eine bäuerliche und ich wollte das Leben meiner Großmutter, in deren Haus ich hineingeboren wurde, erforschen und festhalten. Ihre Herkunft im geteilten und besetzen (Nach-)Kriegspolen verstehen. Dazu habe ich viele Interviews geführt, historische Texte gelesen, in Archiven recherchiert. Während meiner Arbeit am Roman wurde in Polen ein erzählendes Sachbuch publiziert (Chłopki. Opowieść o naszych babkach von Joanna Kuciel-Frydryszak), es wurde ein Bestseller und seitdem schreibt das Feuilleton über das Schicksal und den Alltag von Frauen auf dem Land. Auch wenn mit meinem Schreiben über Armut eine Scham einhergeht, weil ich damit hadere, evtl. auch Vorurteile zu bestätigen, die über polnische Menschen bereits vorhanden sind, so habe ich dank Kuciel-Frydryszaks Buch verstanden, dass die Geschichten der Frauen in meiner Familie keine Einzelschicksale sind. Die dritte Protagonistin und Jüngste, ist meiner Erfahrung am nächsten. Da war es mir wichtig den Zeitgeist der 90er und 2000er abzubilden, die Stimmung in der Gesellschaft aber auch den Schmerz, der mit einer Sehnsucht nach der Großmutter einhergeht.
(1)
https://www.beltz.de/fileadmin/beltz/leseproben/9783779968238_shortened.pdf
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/regionalprofile/509853/geschichte-und-gegenwart-des-antiosteuropaeischen-rassismus-und-antislawismus/
https://hochschulbildungsreport.de/fokusthemen/arbeiterkinder
(2)
2014 erst wurden durch die Regisseurin und Autorin Marta Dzido ein Dokumentarfilm produziert, indem die Frauen der Solidarność zu Wort kommen und das erste Mal namentlich genannt werden.
https://www.bpb.de/mediathek/video/238567/die-frauen-der-solidarnosc/
Des Weiteren beschäftigst Du dich intensiv mit den Themen Tochterschaft und Mehrsprachigkeit. Was inspiriert Dich, diese Themen zu behandeln?
Vielleicht zuerst einmal so:
Pierog gibt es im Polnischen nicht in der Einzahl. Es sind immer pierogi. Mehrere. In der Grammatik, im siedenden Wasser, in der Pfanne oder auf dem Teller. Niemand macht nur einen pierog. Niemand isst nur einen pierog. Sie kleben zu mehreren aneinander.
Eine Tochter gibt es auch nicht in der Einzahl. Wenn ich über eine Tochter schreiben möchte, selbst über ein Einzelkind, so schreibe ich auch über ihre Mutter, die wiederrum auch eine Tochter ist und die wiederrum stammte auch von einer Tochter ab. Und so weiter. Wie pierogi, so kleben auch die Töchter aneinander.
Während alle über Mutterschaft sprechen, kam die Idee zum Roman mit der Frage, was Tochterschaft ist.
Wann beginnt eine Tochterschaft und wann endet sie? Welche Rechte und Pflichten hat eine Tochter? Wann ist man Kind und wann Tochter – denn es macht in unserer patriarchalen Kultur einen großen Unterschied, ob man als Mädchen gelesen wird oder als Junge, damit gehen andere Regeln und (erwünschte) Verhaltensweisen / Erziehungsstrategien einher.
Wann wächst man aus einer Tochterschaft raus? Wenn die Eltern sterben?
Außerdem: Wo knüpfe ich im Leben an? Ich bin immer schon Tochter, in der Welt, in der Gegenwart, im politischen Aktivismus, in meiner Familie – es gab immer schon vor mir Andere, die den Weg geebnet oder zerstört haben und ich erbe all das, was die anderen Töchter und Mütter vor mir kreiert oder verloren haben.
All dies sind Gedanken und Fragen, die mich in meinem Schreiben vorantreiben.
Meine Neugierde auf die Fragen rund um Tochterschaft zeigt auch: es geht um Tochterschaften, denn es macht einen Unterschied, ob ich in einer Familie aufgewachsen bin, die seit Generationen in einem Land / Stadt lebt, oder ob ich religiös erzogen bin, einen oder keinen Vater habe, ob ich cis bin oder Fluchterfahrungen habe, einen Wunsch nach Mutterschaft, etc. pp. Daher ist meine Definition von Tochterschaft auch nur eine von unzähligen und die Frage hat sich weiterentwickelt danach, was uns trennt, was uns verbindet und was alles Tochterschaft sein kann.
Meine ersten Textfragmente zu meinem Roman waren zweisprachig und in einer Chorstimme verfasst. Es hat ein wenig gedauert, bis ich aufgehört habe diese Passagen zu löschen und zu begreifen: Das ist meine literarische Stimme, sie ist eben zweisprachig. Wie aber positioniere ich mich damit im deutschen Literaturbetrieb? An welche Grenzen stoße ich damit? Was verursacht eine Verständnisbarriere im literarischen Text bei den Lesenden? Ich erwische mich auch heute oft beim Zensieren, denke: Darf ich das?
Sprache verbindet und grenzt aus. Menschen werden aufgrund ihrer Grammatik / ihres Akzents abgewertet, unterliegen klassistischen und/ oder rassistischen Diskriminierungen. Was aber ist eine Muttersprache, was eine Vatersprache, was ein Küchentischdialekt, was eine Fremdsprache? Ich bin aufgewachsen mit einer Muttersprache, die nicht in der Öffentlichkeit gesprochen werden durfte (klassisches Chamäleonsyndrom, wie Emilia Smiechowski das großartig in ihrem Buch Wir Strebermigranten beschreibt). Deutsch spreche ich akzentfrei, aber das Polnisch habe ich als Kind verlernt, musste es mir in den Sommerferien bei der Großmutter wieder mühsam aneignen. In der Schule hat sich nie jemand für meine Sprachkenntnisse interessiert. Hätte ich Französisch oder Englisch gesprochen, wäre das was anderes gewesen.
Meine Mutter kann kein Englisch, sie hat es nie gelernt. In der Grundschule hatte sie Russischunterricht (auf Grund des Teils in Polen, in dem sie aufgewachsen ist, der sowjetisch besetzt war) und ich beobachte mein ganzes Leben, was es bedeutet, als Person von der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, die Deutsch mit Akzent spricht und kein Englisch versteht. Meine Mutter und ich werden deutsch gelesen, bis meine Mutter spricht, dann wird sie als Ausländerin wahrgenommen und ich genieße weiterhin mein Passing.
Es ist absurd, wenn man versteht, wie Zugehörigkeit definiert wird, dass auch deshalb Menschen als nicht-deutsch gelesen und/ oder rassifiziert werden, obwohl sie in Deutschland geboren sind, oft schon in zweiter Generation hier leben und beispielsweise immer wieder gefragt werden, wo sie herkommen und unter struktureller Diskriminierung leiden.
Erst durch das Schreiben am Roman habe ich meine Mehrsprachigkeit zugelassen und als literarische Ausdrucksform anerkannt und den Ambivalenzen meiner Identität Raum gegeben. Auch deshalb bin ich dankbar für jede schreibende Person, die ihre Mehrsprachigkeit, cold-switches und brüchiges Deutsch im Text ausdrückt. Das sind alles Texte, an denen ich anknüpfen kann, wir einen Diskurs vorantreiben, der zeitgemäßes und diverses Schreiben von migrantischen / mehrsprachigen Menschen repräsentiert.
Wie gehst du mit der Verantwortung um, Klischees zu vermeiden und gleichzeitig authentische Geschichten zu erzählen?
Ich erzähle eine Geschichte über drei Frauen und es ist eine Geschichte unter Vielen. Sie steht nicht repräsentativ für alle polnischen Frauen oder Migrationsgeschichten, dieser Roman macht mich nicht zur Polenexpertin. Ich fühle mich trotzdem verantwortlich dafür, was ich erzähle. Vielleicht hängt das auch mit meiner Biografie zusammen. Ich bin die Erste in meiner Familie, die das Privileg hat, sich literarisch und künstlerisch auszudrücken, mir hören Leute zu, manchmal werde ich sogar dafür bezahlt. Da ich über eine Großmutter erzähle, die zum Ende des zweiten Weltkrieges in Polen geboren ist und eine Mutter, die in der Volksrepublik Polen aufgewachsen ist, gibt es viel an Geschichte und politischen Ereignissen mitzudenken.
Als Schreibende sehe mich in der Verantwortung zu recherchieren, Gespräche und Interviews mit Menschen zu führen, literarische, wissenschaftliche und historische Texte zu lesen und im Austausch zu bleiben. In meinem Buch beschreibe ich fast 100 Jahre polnische Geschichte als Schauplatz mit. Wer sich mit polnischer und deutsch-polnischer Vergangenheit und Gegenwart beschäftigt, versteht, welche politischen Unruhen, Unbeständigkeiten und Gleichzeitigkeiten da mitschwingen. Der Krieg, die Nachkriegszeit, die Volksrepublik und der Beginn der Rzeczpospolita Polska haben konkrete Auswirkungen auf alles im Text: auf das Essen, das Wohnen, das Geld, die Gesundheit, die Religion, die Arbeit, die Freizeit, die Medien, die Sprache, die Kleidung, auf Zugang zu Wasser, Strom, Toiletten, Transportmittel, Natur, Migration …
Wenn ich Verantwortung beim Schreiben sage, dann meine ich auch eine komplexe Darstellung von beispielsweise der Lebensrealitäten der Bäuerinnen. Ich möchte meine Figuren nicht als Opfer darstellen, nur als arme Frauen, als ungebildete Frauen, als Ausländerinnen. Gleichzeitig möchte ich sehr wohl eine Welt zeigen, in der Frauen und Mädchen tagtäglich körperlich arbeiten müssen und deren Status als Mädchen und Frau weniger wert ist als der von Jungen und Männern. Ich frage mich ständig: Wer schreibt denn Bücher über Armut und ist das eine Fetischierung bzw. nur eine Art, wie sich reiche Menschen Armut vorstellen?
Wer kommt in der Literaturbubble überhaupt zu Wort, in der akademischen Bubble / Kunst- und Kulturwelt? Und hat dann noch die Kraft, sich dort vulnerabel im Bezug auf seine Herkunft zu zeigen?
Mein Anspruch ist, keinen folkloristischen Roman zu schreiben und unbedingt einen orientalisierenden Blick auf das polnische Landleben zu vermeiden. Daher geht es bei Verantwortung auch um Übersetzungen, kulturelle und zeitliche beispielsweise, denn wie kann sich polnische Landzeit in deutsche Literatur übersetzen lassen? Wie kann ich vermeiden, dass meine Literatur nicht wie ein Wikipedia-Eintrag klingt, um den Lesenden vorrangig die polnische Geschichte und Kultur zu erklären?
Ich denke, es gibt bestimmte Bilder, die aufpoppen, wenn man an Polen denkt. Der Papst, die katholische Kirche, bestimmte Witze (jede*r kennt den mit dem Auto) und fast jede*r kennt einen Polen, der auf dem Feld oder dem Bau als Gastarbeiter arbeitet oder als Engel aus dem Osten eine alte Person aus der Familie betreut. Aber wer fährt nach Polen in den Urlaub? Wer weiß schon, dass es die meiste Zeit geteilt war? Dass es immense Migrationswellen gab?
Ich denke, seit Olga Tokarczuk einen Nobelpreis für Literatur bekommen hat, ist polnische Literatur präsenter. Aber sie ist schon immer unter uns. Aber ich weiß nicht, wie viele Menschen polnische Bücher lesen. Natürlich möchte ich über diese Leerstellen und Kategorisierungen sprechen. Denn gerade bei Texten aus einer Perspektive von marginalisierten Personen / zu „Nischenthemen“ besteht die Gefahr einer Reduzierung auf eine einzelne Geschichte und Person. Damit meine ich, dass gesagt wird: „Es gibt ja schon dieses eine Buch über Polen“ oder „es gibt schon diese eine polnische Autorin, die hat dasselbe geschrieben“.
Wie viele Bücher über Liebe und Tod gibt es von alten weißen Männern? Nur eins? Manchmal fehlt in unserer Gesellschaft das Verständnis dafür, dass es nicht nur die eine Geschichte gibt, sondern unzählige (was auch das wunderbare an Literatur ist!) und nicht immer alles neu erfunden werden kann und muss. Viele Geschichten zusammen können ein komplexes Bild von Polen und polnischen Migrant*innen ergeben. Da ist es wichtig, sich als lesende Person auch zu hinterfragen: Welche Vorstellung habe ich von Polen? Welche Narrative interessieren mich? Bin ich offen für neue Geschichten? Ist es nicht vielleicht auch egal, dass der Roman in Polen spielt?
Mir war es auch deshalb wichtig, keine klassische Aufsteigergeschichte zu erzählen.
Aber natürlich ist dafür auch der Literaturbetrieb mitverantwortlich, denn dort wird Gatekeeping betrieben und entschieden, welche Themen gerade angesagt sind und Geld bringen. Auch dieser Umstand macht was mit uns Schriftsteller*innen, unserer Sichtbarkeit und Freiheit zu schreiben, worüber wir wollen.
Mittlerweile weiß ich, dass es so einige Autor*innen in Deutschland gibt, die über Polen und Migration von „Ost- nach Westeuropa“ schreiben und Mehrsprachigkeit. Es bedarf nur eines bestimmten Interesses, um an diese Themen ranzukommen und selbstverständlich wünsche ich mir als Autorin, dass diese Themen breiter besprochen werden und nicht nur unter Slawistikstudierenden oder Betroffenen oder wenn ein politisches Ereignis den Scheinwerfer auf das Thema Migration und Feminismus wirft.
Die Auseinandersetzung mit Verantwortung beim Schreiben und welche Rolle dabei meine Identität spielt, haben mich zum Austausch mit anderen gebracht, die auch über Polen und Mehrsprachigkeit schreiben und denken. Gemeinsam wollen wir eine Anthologie zu diesem Thema verfassen, denn es wird noch viel zu wenig darüber im Mainstream reflektiert.
Dein Projekt »Córkowość«, in dem du Töchter zu ihrer Familie, Herkunft, Muttersprache und transgenerationalem Trauma befragst, siehst du als performative Ergänzung zu deinem Debütroman. Was hat dich dazu bewegt, das Projekt ins Leben zu rufen, und welche Erkenntnisse hast du aus den Beiträgen der Teilnehmerinnen gewonnen?
Schreiben ist eine sehr langwierige, ausdauernde und einsame Sache. Außerdem ist das so eine Sache mit der Resonanz / Performativität: Von der Idee bis zum gedruckten Buch vergehen Jahre, dann noch weitere Monate, bis es bei Lesungen etc. zu Gesprächen kommt mit Publikum, Presse, Interessierten. Oft denke ich beim Schreiben und Lesen, es ist schon fast was Altertümliches, was ich da tue. Völlig aus der Zeit gefallen, wenn man im Vergleich dazu die Geschwindigkeit misst, in der da draußen Dinge geschehen und produziert werden.
Auch wollte ich mich in unterschiedlichen Kanälen ausdrücken. Obwohl ich Textarbeit und Sprache liebe, so komme ich manchmal an die zweidimensionale Grenze. Die Buchstaben auf dem Papier, so wie sie gelesen werden, linear, von links nach rechts, widerspricht total meinem Gehirn, wie ich die Texte und Geschichten sehe, denn da passiert alles parallel, es hat viel eher die Gestalt eines sich ständig bewegenden Loops, eines Kreises, einer liegenden Acht oder sogar eines Pierog.
Manche Autor*innen sprechen nicht über ihre Ideen oder Texte, weil sie das für den Prozess brauchen. Ich aber brauche das Außen für meine Motivation und Ausdauer. Ich arbeite gerne in Kollektiven und mit Menschen, die sich in ganz unterschiedlichen Künsten verorten bzw. gar nicht professionell schreiben oder performen. Das erweitert meine vereinzelte Perspektive auf Dinge. Auch darauf, was Tochterschaft sein kann. Aus dieser Neugierde entstand Córkowość (Entstehungsjahr 2023) – der Titel ist eine Wortpaarung aus den polnischen Begriffen córka (Tochter) und ciekawość (Neugierde). Es ist ein partizipatives und performatives Schreib- und Leseprojekt zu Tochterschaften, Herkünften, Muttermalen und Großmutterzungen. Die letzten zwei Jahre habe ich an unterschiedlichen Orten (öffentliche, Galerien, Konferenzen, Kulturinstitutionen, Theater, u.a.) einen Fragenkatalog und eine Box aufgestellt. Zufälliges Publikum (alle Menschen, die sich als Tochter verstehen, waren eingeladen teilzunehmen) konnten dort anonym ihre Gedanken und Antworten formulieren und in die Box werfen. Somit wurde das Schreiben mit Stift und Zettel im öffentlichen Raum sowie das plötzliche Herbeiholen seiner Ahn*innen – durch die Fragen, die gestellt wurden – vom privaten Schreiben zu einem performativen künstlerischen Akt.
Die Texte der Teilnehmer*innen wurden in unterschiedlichen Kontexten verlesen und sind gleichzeitig überraschend und auch nicht. Zusammengefasst geht es um patriarchale Gewalt und um dessen Zeug*innenschaft, um Verantwortung, Care-Arbeit und darum, sich schuldig zu fühlen, wenn man ein besseres Leben als die Mutter und Großmutter führt. Es thematisiert viel Unausgesprochenes, Tabuthemen und Geheimnisse in der Familie. Es geht um das Finden dessen, was man nie erfahren hat, um zu verstehen, womit man sich jetzt abmüht (beispielsweise in Therapien oder in den eigenen Familien / Beziehungen). Gerade wenn auch eigene Kinder ins Leben kommen, schreiben viele Töchter von einem bedeutenden Wandel, in dem die eigene Verbindung zur Mutter eine neue Rolle spielt, die Auseinandersetzung mit den familiären Mustern und Verhaltensweisen, mit der Küchentischsprache, der Herkunft. Das Matriarchat wird in den Fokus genommen. Außerdem bemerkenswert: Die Auseinandersetzung mit der Abwesenheit von Männern. (Daher wird sich mein neues Schreibprojekt auch mit Vater- und Sohnschaften auseinandersetzen.)
Viele Texte sind sehr poetisch, was das Projekt auch zu einem literary research Projekt macht, und daran interessiert mich: Wie kann autobiographisches Wissen literarisiert werden?
Im Moment wächst Córkowość zu Die Stimmen der Töchter. Gemeinsam mit Übersetzerin und Autorin Dejla Jassim und Künstlerin und Choreographin Andrea Lagos möchten wir ein Live-Hörspiel entwickeln, ein partizipatives und mehrstimmiges, in dem Töchter, die mehrsprachig sozialisiert sind und Migrationsgeschichte haben, von ihren Tochterschaften erzählen.



